Das Sehen

Der Mensch ist ein stark auf visuelle Umweltorientierung ausgerichtetes Wesen. Entsprechend ausgeprägt und entwickelt sind die dafür notwendigen Organe: Die Augen und das Gehirn. Damit Sehen möglich ist, muss von der Pupille bis zu den grauen Zellen alles optimal zusammenspielen.

Visuelle Wahrnehmung

Als visuelle Wahrnehmung bezeichnet man in der Physiologie die Aufnahme und Verarbeitung von visuellen Reizen, bei der über Auge und Gehirn eine Extraktion relevanter Informationen, die Erkennung von Elementen und deren Interpretation durch Abgleich mit Erinnerungen stattfindet. Somit geht die visuelle Wahrnehmung weit über das reine Aufnehmen von Information hinaus.
Wie aktiv unser Gehirn beim Sehen mitspielt, zeigt sich bei der schnellen Erkennung von Gesichtern sehr gut. Diese besondere Fähigkeit gehört zu den wichtigsten sozialen Wahrnehmungsleistungen des Menschen. Eine Folge davon ist, dass wir auch in Naturformationen (z.B. Wolken) dazu neigen, Gesichter zu erkennen.

Das Gehirn «sieht mit»

Wie kein anderes Organ sind die Augen eng mit dem Gehirn verbunden – man kann sie sich auch als sensorische Verlängerung des Gehirns vorstellen. Die grauen Zellen sind in die Sehvorgänge stark involviert. Einerseits verarbeitet das Gehirn die Nervenreize zu Bildmustern, vergleicht diese mit Bekanntem und weist ihnen Bedeutungen zu: Erst im Kopf entstehen die Bilder, die wir „sehen“. Andererseits steuert das visuelle Zentrum des Gehirns auch die feinmotorischen Augen-Bewegungen: Z.B. das Einschwenken der Augen beim Sehen in die Nähe; das Erweitern und Verkleinern der Pupille, um den Lichteinfall zu regeln oder das Beugen der Augenlinse via die feinen Zillarmuskeln, um den Fokus scharf zu stellen. Bei leichten Fehlsichtigkeiten werden die Abweichungen durch laufende Gegensteuerung ausgeglichen – eine verstärkte, aber unbewusste Sehanstrengung, die mit der Zeit ermüden kann.

Das visuelle System

Beim Sehen sind eine ganze Reihe von Gehirn-Bereichen aktiviert, sowohl was die Steuerung der Augen, als auch was die Auswertung und Aufbereitung der Bild-Information betrifft. Jedes Auge wird von beiden Gehirnhälften kontrolliert, wobei die Nerven der Sehbahnen übers Kreuz verlaufen (Chiasma). Das Blickfeld jedes Auges ist senkrecht zweigeteilt. Der äussere Teil z.B. des linken Auges wird auch von der linken Hirnhälfte verarbeitet, der Teil nach Innen zur Nase hin jedoch von der rechten.

  1. Der äussere Sehbereich des linken Auges wird von der linken Gehirnhälfte verarbeitet.
  2. Der innere Sehbereich zur Nase des linken Auges wird von der rechten Gehirnhälfte verarbeitet.
  3. Im Gesamtblick überlagern sich die Sehbereiche.

Auge als Kamera

Die Projektion steht Kopf: Wie bei einer Kamera wird auch im Auge das Abbild höhen- und seitenverkehrt auf die Netzhaut projiziert. Die schematische Funktionsweise der Augen lässt sich mit der einer computergesteuerten 3D-Kamera mit Autofocus und allen Schikanen vergleichen. Beide basieren auf den gleichen optischen Prinzipien wie jede konventionelle Kamera: Das Licht (mit der Bildinformation) wird durch ein Objektiv aufgefangen und auf ein Medium gebracht, wo es in eine andere Form umgewandelt wird – in ein Bild auf einem Film, in Daten oder in Nervenreize.

Sehen in die Ferne

Blick in die Ferne: Das normalsichtige (emmetrope), Auge hat in Ruhestellung seinen Brennpunkt auf der Netzhaut. Alles, was vom Auge betrachtet wird, fällt genau auf die Netzhautgrube, auf die Zone des schärfsten Sehens.
In entspannter Ruhestellung ist der Blick unserer Augen in die Ferne gerichtet; die Blickachsen der beiden Augen liegen im Regelfall parallel. Leichte Abweichungen in der natürlichen Anlage werden vom visuellen System kompensiert. Auch die Augenlinse, das Fokussiersystem jedes einzelnen Auges, ist in entspannter Lage auf „Weitblick“ eingestellt.

Sehen in die Nähe

Beim Sehen in die Nähe stellt sich das visuelle System auf die verkürzte Distanz ein: Die Augen schwenken nach Innen (Konvergenz) und die Linsen der einzelnen Augen stellen entsprechend scharf. Durch das Zusammenziehen des Zilarmuskels erhöht sich die Krümmung der Augenlinse, bis das Objekt deutlich abgebildet wird. Dieser Anpassvorgang der Augenlinse nennt sich Akkommodation.Durch eine zunehmende Versteifung der Linse schon ab dem 10. Lebensjahr verringert sich dieses Anpassvermögen im späteren Lebensalter. Ein Kleinkind sieht Dinge scharf, die gleich vor seiner Nasenspitze sind, im Alter von 40 bis 50 Jahren liegt dieser Nahpunkt 30-50 cm und mehr von den Augen weg (siehe Fehlsichtigkeiten: Presbyopie / Alterssichtigkeit).

Beidäugiges Sehen

Das beidäugige oder binokulare Sehen ist wesentlich für Richtungs-Wahrnehmung und Tiefenschärfe. Erst der beidäugige Stereoblick ermöglicht gutes räumliches Sehen. Im Normalfall ist ein Augenpaar genau aufeinander abgestimmt; die Seheindrücke beider Augen verschmelzen zu einer gemeinsamen Wahrnehmung (Binokularsehen). Diese Fusion der beiden Seheindrücke erfolgt weitgehend unbewusst und wird durch motorische (Muskelbewegungen) und sensorische (Schaltvorgänge im Nervensystem) Aktivitäten gesteuert. Stört eines der Augen den Fusionsvorgang massiv (z.B. durch Schielen oder starke Fehlsichtigkeit), kann es vom visuellen System unterdrückt werden.

Blick und Gesichtsfeld

  1. Blickfeld: Bereich, der sich bei unbewegtem Kopf durch Augenbewegungen deutlich überblicken lässt.
  2. Gesichtsfeld: Bereich, den man wahrnehmen kann, während man etwas mit dem Blick fixiert.
  3. Zentrale Tagessehschärfe: Zone des deutlichsten bzw. schärfsten Sehens.
  4. Peripheres Sehen: Visuelle Wahrnehmung ausserhalb der zentralen Zone des schärfsten Sehens.

Zentrum und Peripherie: Wirklich scharf sehen wir am Tage nur jeweils dort, wo wir genau Hinblicken. Je weiter von diesem Punkt entfernt, desto unschärfer wird das Bild. Obwohl der Blick häufig springt und die Umgebung „abtastet“, werden wir von unserem visuellen System mit einem angenehmen Gesamtbild versorgt.

Sehen bei Dämmerung und Nacht

Das menschliche Auge ist mit zwei Sehzellen-Typen ausgerüstet. Das zentrale Sehen mit hoher Detailschärfe bei gutem Licht erfolgt durch die Zäpfchen, die auf der Netzhaut am Punkt des schärfsten Sehens (Fovea) am häufigsten vorhanden sind. Fällt bei Nacht und Dämmerung kein intensives Licht durchs Auge ein, werden die lichtempfindlichen Stäbchen rund um die Fovea aktiv. Dort wo bei Tag der Punkt des schärfsten Sehens war, ist jetzt ein Nachtblindheitsfleck. Am schärfsten sieht man Nachts also dann, wenn man leicht am Zielobjekt vorbeischaut.

Hell-Dunkel-Adaptation

Die Umstellung der Augen vom Hell- zum Dunkelsehen wird Adaptation genannt. Die Pupillen öffnen sich weit, um möglichst alles Licht einzulassen. Darunter leidet, ähnlich wie bei einer Fotokamera, die Tiefenschärfe. Die Sehleistung wird beträchtlich reduziert, man sieht am besten auf mittlere Distanzen. Zudem geht auch das dreidimensionale Sehen (Tiefenempfindung) weitgehend verloren und damit die Fähigkeit, die Grösse von Objekten zu schätzen. Entscheidend für das gute Sehen in der Nacht sind jedoch vor allem die Adaptations-Reaktionen auf der Netzhaut, wo sich die Sehzellen durch langsame photochemische Prozesse auf die verändernde Lichtintensität einstellen.
Sofort- und Daueradaptation: Der Dunkeladaptationszustand nach 3-5 Minuten wird als Sofort-Adaptation bezeichnet, nach mind. 30 Minuten als Daueradaptation. Beide Adaptationsarten sind voneinander unabhängig, jemand kann also eine gute Sofort- aber schlechte Daueradaptation haben.
Bei weit geöffneten Pupillen kommt die optische Leistung des Auges voll zum Tragen. Dabei können sich leichte Sehfehler bemerkbar machen, deren Vorhandensein man im Alltag gar nicht merkt, da sie durch die höhere Tiefenschärfe der kleineren Pupille kompensiert werden.

Sehschärfe

Das Auflösungsvermögen eines visuellen Systems bezeichnet dessen Fähigkeit, dicht benachbarte Punkte oder Linien getrennt wahrzunehmen. Das Auflösungsvermögen des Auges wird von einer Vielzahl von Faktoren mitbestimmt:

  • Form und Orientierung der Objekteinzelheiten
  • Leuchtdichte und Farbe von Objekt und Umfeld
  • Dauer der Wahrnehmungszeit
  • Aufmerksamkeit des Betrachters
  • Bekanntheit des Objekts (Gewöhnung)
  • optische Qualität des Netzhautbildes
  • Adaptationszustand des Auges
  • Bildort auf der Netzhaut

Sehschärfe in Visus: In der Augenoptik wird die Sehschärfe (Visus) mit speziellen Sehzeichen bestimmt. Gemessen wird die kleinstmöglich erkennbare Zeichengrösse unter normalen Tageslichtbedingungen, jeweils einzeln links und rechts sowie beidäugig, wobei die binokulare Sehschärfe meist höher ist als die als monokulare bzw. einäugige.
Das Resultat gibt Auskunft über die zentrale Tagessehschärfe. Der Wert Visus 1 manchmal auch “ Visus 100%“ genannt, entspricht einem Durchschnittswert für gutes Sehen. Definiert ist dieser Wert wie folgt: Wenn zwei Punkte, die sich im Abstand von einer Winkelminute (= 1/60 Grad) befinden, als getrennt wahrgenommen werden können. Im angelsächsischen Raum ist ein anderes Bewertungssystem verbreitet. Dort entspricht Visus 1 einem Sehvermögen von 20/20.

Visus-Sehschärfenwerte

Visus Sehschärfenwerte in logarithmischer Abstufung DIN EN 8596


2.000 überdurchschnittlich


1.600 sehr gut
1.250


1.000 ausreichend / gut
0.800


0.630 herabgesetzt
0.500
0.400


0.320 stark herabgesetzt
0.250
0.200
0.160
0.125
0.100

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